P. Marchal: Kultur- & Programmgeschichte des öffentl.-rechtl. Hörfunks

Titel
Kultur- und Programmgeschichte des öffentlich-rechtlichen Hörfunks in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch


Autor(en)
Marchal, Peter
Erschienen
München 2004: Kopäd Verlag
Anzahl Seiten
939 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffi Schültzke, Halle

„Dem Hörfunk seine Unscheinbarkeit zu nehmen, seine Geschichte und Verdienste dem Vergessen zu entreißen, seine Leistung als kulturelle festzuhalten, ist hier die Absicht“ (S. 10): Peter Marchal hat sich mit dem zweibändigen Werk „Kultur- und Programmgeschichte des öffentlich-rechtlichen Hörfunks in der Bundesrepublik Deutschland“ kein geringes Ziel gesetzt. Die Bezeichnung als Handbuch und der Umfang von fast 1000 Seiten lassen automatisch die Frage aufkommen, ob dies ein zukünftiges Standardwerk in Sachen deutscher Rundfunkgeschichte ist. Könnte jedoch der Gebrauch des unbestimmten „Ein“ vor dem „Handbuch“ neben einem wissenschafts-üblichen Understatement bereits als Relativierung dieses selbstbewussten Anspruchs gelesen werden?

Mehrdimensional versteht Peter Marchal seinen Zugang und mit diesem soll eine „Bresche“ geschlagen werden: die Hörfunkprogramme insbesondere ab 1948/1949 bis zur Gegenwart, die sie beeinflussenden Faktoren und die sich verändernde Programmpraxis darzustellen (S. 55). Dem widerspricht allerdings, dass der Autor a priori auf die Betrachtung von privatem Rundfunk und DDR-Rundfunk verzichtet. Die Interdependenzen dieser unterschiedlichen Systeme sind unbestreitbar, und es fehlt eben gerade in dieser Hinsicht bislang so ziemlich jede Grundlagenforschung. Der Autor hat in seinen Untersuchungen bewusst auf die Benutzung von primären Quellen verzichtet und kompiliert seine Hörfunkgeschichte anhand der Auswertung möglichst aller bisherigen publizierten Literatur zum Thema. Der chronologischen Programmgeschichte ist eine ausführliche Grundlegung vorangestellt. Sie zielt darauf ab, den Gegenstand aus wissenschaftsgeschichtlicher, definitorischer, medienpolitischer, finanzieller und technischer Sicht zu kontextualisieren. Auch wenn hier die sonst angelegte Chronologie der Ereignisse nicht bedient werden kann, so ist diese Einbettung doch interessant zu lesen und bietet einen umfassenden Einblick auch in die wissenschaftliche Problematik, der sich Marchal mit seiner Programmgeschichte gestellt hat. Neues erfährt man allerdings nicht.

Es folgt, nach einem kürzer gehaltenen Kapitel zum Rundfunk vor 1945, im ersten und zweiten Band die Hörfunkgeschichte der Bundesrepublik. Bis in die Gegenwart, so lautet der Anspruch des Autors, doch die dargebotenen Entwicklungen enden faktisch mit den veränderten Bedingungen des dualen Rundfunksystems. Zwar werden unter dem Stichwort „Computerisierung“ einige mögliche und tatsächliche Auswirkungen im Medium Radio benannt, das Stichwort Internetradio findet sich in diesem ausführlichen Werk jedoch ebenso wenig wie Ausblicke etwa auf Web- und Netcasting. Aus diesem Grund wäre es für eine bibliografische Recherche sinnvoller gewesen, hätte man den Zeitraum im Titel ebenfalls bis auf circa 1995 begrenzt.

Marchal bietet eine ausgesprochen detailreiche Darstellung der Entwicklung des Hörfunks. Die behandelten Aspekte reichen dabei von politischen Rahmenbedingungen, technischen und finanziellen Umständen bis hin zu solchen, die sich aus dem Selbstverständnis der einzelnen Redaktionen und Intendanzen ergeben. Die Vielfalt von Quellen, die benutzt werden, geben teilweise ein sehr anschauliches Bild bestimmter Zeiträume. Marchal lässt Personen und Quellen für sich sprechen. Das erhellt die jeweiligen Situationen, ist jedoch für den umfassenden Gegenstand und die Übersichtlichkeit (immerhin sind nicht nur 939 Seiten sondern auch 2546 Fußnoten zu lesen) nicht von Vorteil. An einigen Stellen wäre eine Tabellenform angebracht gewesen, etwa bei der Darstellung verschiedener Personalentwicklungen der unterschiedlichen Rundfunkanstalten (S. 160). Schwierig wird das Verweben von Zitaten dann, wenn Marchal zwei scheinbar 18 Jahre voneinander entfernte Schriftstücke Helmut Hammerschmidts kompiliert, die jedoch denselben Wortlaut haben und bei näherer Betrachtung nur Nachdrucke ein und desselben Pamphletes sind. Hier hätte sich der Leser gerade ob der Fülle des Materials mehr Sorgfalt gewünscht. Trotz oder gerade wegen dieser Vielfalt fehlt dem Werk jedoch eine Systematik, die einem die Handhabung als Handbuch auch wirklich ermöglichen würde. Komplexität wird hier leider durch eine Fülle von Daten abgebildet. Oft fehlen kommentierende Einordnungen von Quellen. Als wenig hilfreich darf man das magere Sachregister bezeichnen, das zwar die Begriffe „Bunter Abend“, „Hörsinn“ und „Telefon“ enthält, aber den Leser nicht zu Termini wie „Programmgeschichte“ oder „Rundfunkrat“ führt.

Leider wirken viele Schlussfolgerungen angesichts der oft sehr umfassenden Ausführungen fast lapidar. So kommt Marchal nach einem detaillierten Ausflug in die Definitionsgeschichte von ‚Programm’ zu dem Schluss: „Die vorgestellten und diskutierten Definitionen von ‚Programm’ ergeben, […] dass es als eine eigenständige Einheit und als Ordnungskategorie zu verstehen ist.“ (S. 83) Differenzierte Ausführungen zu den schwierigen Beziehungen zwischen Rundfunk und Parteien schließen mit der unvermittelten Feststellung: „Es kommt daher bei der Abwehr parteipolitischen Drucks ganz auf das Binnenklima einer Anstalt an.“ (S. 144)

Insgesamt also bleiben nach näherer Ansicht des Zweibänders wenig Zweifel an seiner interessanten Fakten- und Quellensammlung. Man kann und sollte dieses Buch zu Hand nehmen. Beispielsweise Studenten dürfte es in Vorbereitung auf Seminare einen fundierten Eindruck von der westdeutschen Hörfunkgeschichte zwischen 1945 und 1995 vermitteln und auch Grundsätze von Programmgeschichtsschreibung vorstellen. Ein Handbuch der Hörfunkgeschichte jedoch ist es nicht. Marchals Werk ist ein Lesebuch, das die bisherige Hörfunkforschung für den Zeitraum 1945-1995 adäquat zusammenfasst.

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